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“Andere nicht wegstoßen, sondern ihnen zuhören”: Transgenerationales Gespräch anlässlich des Erinnerns an 30 Jahre Abschaffung des §175

Am 10. Juni 2024 fand aus Anlass des 30. Jahrestags der Abschaffung des §175 StGB auf der Theaterwiese am Mahnmal “Im Schatten des Regenbogens” eine Gedenkkundgebung statt. Daran schloss sich ein Podiumsgespräch zur Auswirkung der Verfolgung mittels §175 auf das Leben der queeren Community auch in Darmstadt an. Die Veranstaltung wurde gemeinsam mit vielbunt e.V. und HuK – Homosexuelle und Kirche e.V organisiert. Aus den Blickwinkeln unterschiedlicher Generationen wurde der historische Kontext des §175, seine Bedeutung für die queere Community sowie Entwicklungen und Herausforderungen auf dem Weg zu Gleichstellung und Akzeptanz thematisiert. Im Gespräch trafen sich Klaus Schierdewahn (Aktivist, Betroffener des § 175), Herbert Horatz (HuK e. V.), Benedikt Freitag (vielbunt e.V.) und Alex Böpple (Lehrer, Drag Queen), der auch die Moderation übernahm.

Geschichte des § 175

Einigkeit herrschte direkt zu Beginn dabei, dass der § 175 einen erheblichen Einschnitt in die Entwicklungsmöglichkeit junger Menschen bedeutete. Die Gefahr, erwischt zu werden, sei zwar bekannt gewesen, aber das Ausmaß sei ihm erst deutlich geworden, als er selbst festgenommen worden sei, erklärte Klaus Schierdewahn. Herbert Horatz weist darauf hin, dass die Stigmatisierung aus der Zeit des Nationalsozialismus sich durch die Beibehaltung des § 175 nach 1945 fortsetzte. Dabei hätte es bereits zuvor Bestrebungen zur Abschaffung des Gesetzes gegeben. In der Weimarer Republik sei unter anderem unter Magnus Hirschfeld von einer größeren Personengruppe Aufklärungsarbeit geleistet worden. Vergeblich, wie Schierdewahns Schilderung der Erfahrung eines jungen Richters zeigt, der nach 1945 mit den Ansichten und der Rechtssprechung von Kollegen konfrontiert gewesen sei, die ihre Position bereits in der NS-Zeit bekleidet hätten und auch nach Kriegsende an den Gerichten blieben.

Alex Böpple schilderte den Versuch, über eine Klage beim Bundesverfassungsgericht 1957 eine Abschaffung, oder zumindest eine Entschärfung, des Gesetzes zu erreichen. Sie wurde jedoch abgewiesen mit der Begründung, das Gesetz sei nicht nationalsozialistisch geprägt und enthalte keine Einschränkung der persönlichen Entfaltung. Diese Vorstellung sei auch lange durch die Sexualmoral der Kirchen geprägt gewesen, so Horatz. Das inzwischen abgelegte Schuldbekenntnis der evangelischen Kirche sei ein Schritt in die richtige Richtung. Das Schließen von Lebenspartnerschaften, teilweise aber auch Hochzeiten, sei möglich und es gäbe ein Werben um ein Umdenken in den Gemeinden. Die evangelische Kirche in Darmstadt habe auch einen eigenen Stand auf dem CSD. Doch insbesondere die Entwicklung in der katholischen Kirche zeige, wie lange dieser Prozess gesellschaftlich andauere.

Auf einem mit 2 Regenbogenflaggen geschmückten Podium sitzen 4 Personen in schwarzen Sesseln vor einem Publikum.
Podiumsrunde des transgenerationalen Gesprächs zum Gedenken an den § 175, Foto: Wissenschaftsstadt Darmstadt / Rebekka Friedrich

Auswirkungen und Aufarbeitung

Die Aufarbeitung der Geschichte des § 175 und seiner Betroffenen für Darmstadt habe inzwischen zu einer Publikation (“Darmstadt unter dem rosa Winkel”) und der Verlegung zweier Stolpersteine für Konrad Jacobi und Heinricht Ohrlemann geführt. Die Auswirkungen der Verfolgung nach 1945 werden in der Schilderung von Schierdewahn deutlich, der seine eigene Geschichte als Betroffener des § 175 skizziert. Sein Partner, mit dem er erwischt wurde, erhielt eine Gefängnisstrafe und verlor seine Anstellung. Der genauen Verlauf des Verfahrens lasse sich nicht mehr nachvollziehen, da seine Eltern die Unterlagen entsorgt hätten. Eine anschließende Konversionstherapie konnte er mit der Ankündigung seiner Verlobung mit einer Freundin beenden. Schierdewahn betont, wie wichtig für ihn die Unterstützung durch seinen Pfarrer und das Angebot der örtlichen Jugendgruppe gewesen sei, um dem Erlebten zu begegnen. Denn nach dem erfolgten Zwangsouting durch die Polizei vor seinen Eltern hätte er zuhause vor allem Ablehnung erfahren. Den großen sozialen Druck dieser Zeit sieht Benedikt Freitag als Ursache für die ablehnende Haltung von Großeltern aktuell. Er äußert Verständnis für die Zurückhaltung älterer Generationen, die diese Verfolgung miterlebt hätten.

Horatz betont, wie diese Betroffenheit in die 90er Jahre fortgeführt wurde. Es habe keine Vorbilder oder organisierte Gruppen gegeben, sondern das Thema sei vor allem negativ besetzt gewesen. Erst der Umzug nach Frankfurt hätte ihm den Kontakt mit anderen homosexuellen Personen ermöglicht. Vorbilder und kontinuierliche Bildungsarbeit sieht auch Freitag als wichtige Bausteine, um queerfeindliche Stimmungen in der Gesellschaft zu bekämpfen. Während der Pandemie sei vor allem letzteres weggefallen, mit gravierenden Auswirkungen. Die Podiumsteilnehmer schildern ihre Erfahrungen mit Ablehnung auf dem Wohnungsmarkt. Teilweise wurde eine Zusage verweigert, oder nur erteilt, weil die begleitende Freundin als Partnerin gelesen wurde. Inzwischen gäbe es zwar weniger rechtliche, aber doch noch viele gesellschaftliche Probleme, erläutert Freitag. In der Öffentlichkeit gehe beispielsweise von den Teilnehmern bei Veranstaltung mit viel Alkoholkonsum eine Gefahr für queere Menschen aus.Wichtig sei daher Zivilcourage der Umstehenden bei Anfeindungen. Horatz betont, dass angesichts des Rechtsrucks in Europa eine rechtliche Grundabsicherung durch die Verankerung von sexueller Orientierung und Geschlechtsindentität im Grundgesetz notwendig sei. Es bestehe Unsicherheit darüber, ob die rechtlichen Errungenschaften bestehen bleiben, wenn sich das gesellschaftliche Klima ändere. Vor der Pandemie sei eine Hochphase der Akzeptanz erreicht worden, bestätigt Freitag. Inzwischen könne man eine Radikalisierung unter anderem durch rechtsextreme Inhalte in den Sozialen Medien beobachten. Es müsse gesellschaftlicher Konsens sein, Menschen beispielsweise durch das Selbstbestimmungsgesetz zu helfen. Schulen müssten entsprechend aufklären und Kindern und Jugendlichen diese Perspektiven aufzeigen. Böpple ergänzt die Notwendigkeit, auch Lehrkräfte in dieser Hinsicht weiterzubilden. Es gäbe viel guten Willen, aber teilweise noch zu wenig Wissen und kaum Bewusstsein für die Auswirkungen bei Nicht-Betroffenen. Das sei auch Grund für ihn, Schulen zu besuchen und dort seine Geschichte zu erzählen, erläutert Schierdewahn. Ihm sei es wichtig, dass die Kinder einander zuhören und miteinander reden.

Sichtbarkeit und Vorbilder

Horatz erklärt, das es zwar mühselig sei, über die eigene Sexualität zu sprechen, während hetero Menschen das für gewöhnlich nicht müssten. Doch Personen in der Öffentlichkeit seien als Vorbilder wichtig. Homosexuelle Menschen müssten als “normale Menschen” sichtbar sein. Ziel sei es, die sexuelle Orientierung nicht zu verstecken, sondern klar in die eigene Biographie einzubauen. Gerade das sei älteren Menschen aberzogen worden, so Schirdewahn. Man solle sich nicht verstecken, aber auch nicht auffallen. Er gehe in die Öffentlichkeit, weil es für die Aufklärung anderer Menschen wichtig sei. Freitag betont ebenfalls die Bedeutung von Vorbildern, als welche man auch selbst auftreten könne. Vorbilder würden den Stillen helfen, den Kindern, die sich nicht trauen und die sich alleine fühlen, insbesondere im ländlichen Raum. Die digitale Präsenz sei wichtig, um auch die anzusprechen, die keinen Zugang zu Jugendgruppen haben. Böpple fasst zusammen, wie sehr die Geschichte des § 175 bis heute sichtbar sei. Die gesellschaftlichen Konsequenzen der Verfolgung seien noch immer vorhanden und hallen nach. Umso wichtiger sei die Sichtbarkeit in der Gesellschaft.

Diskussion und Themenvorschläge

Die nachfolgende Diskussion bot nicht nur die Gelegenheit, weitere Einblicke in die persönlichen Erfahrungen der Podiumsteilnehmer zu erhalten. Es wurde außerdem deutlich, wie wichtig gerade auch für Menschen, die eine Verfolgung unter §175 direkt erlebt haben, eine Positionierung gegen queerfeindliche Kräfte in der Gesellschaft ist. Dazu zählen auch Veranstaltungen wie die durchgeführte, die ein gemeinsames Erinnern und zeitgleich auch das Teilen von Erlebnissen und Befürchtungen ermöglicht, um daraus Kraft und Hoffnung zu schöpfen.

Box für Themenvorschläge für künftige transgenerationale Gespräche, Foto: Wissenschaftsstadt Darmstadt / Rebekka Friedrich

Die Veranstaltung ist als Auftakt einer Veranstaltungsreihe zu verstehen. Es ist geplant, mit nachfolgenden Angeboten auch andere Perspektiven der queeren Community zu unterschiedlichen Themen in den Blick zu nehmen. Hierfür stand während der Veranstaltung im Haus der Geschichte eine Box zur Verfügung, über die Vorschläge für künftige Themen eingereicht werden konnten. Dankenswerter Weise wurde diese Möglichkeit rege in Anspruch genommen, so dass wir für anstehende Termine auf folgende Vorschläge zurückgreifen können:

Unterdrückung/BefreiungAktivismus

  • Anfänge der queeren Befreiungsbewegung in Deutschland
  • Aktivismus über die Dekaden
  • Queeres Leben in der Weimarer Republik in Darmstadt (Pressezensur etc.)
  • wie Transfrauen vom Staat gleichsam unter 45b verfolgt wurden und wieder schwierig sein kann rückblickend zu unterscheiden
  • Transsexuellengesetz und Zwangssterilisation
  • Konversionstherapie
  • Fortbestehende medizinische Eingriffe an Typ „D“ Neugeborenen in der BRD

Community

  • Begegnungsstätten heute/früher
  • Wie hat sich die Szene in und um Darmstadt entwickelt?
  • Wie erleben queere Menschen die Stadt?
  • Beziehung von queeren FLINTA* Communities zu Geschlecht, Feminismus und Transidentität
  • Trans sein
  • Entwicklung der queeren Szene
  • Intersexuelles Leben

Wir bedanken uns bei Jan Bambach (vielbunt e.V), Harald Switalla, Herbert Horaz (beide HuK e.V.) und Leon Reinel (Koordinationsstelle LSBT*IQ der Wissenschaftsstadt Darmstadt) für die Zusammenarbeit zur Vorbereitung und Durchführung der Veranstaltung. Darüber hinaus freuen wir uns sehr über das Feedback zur Veranstaltung und die zuahlreichen Themenvorschläge für künftige Gespräche.


OpenEdition schlägt Ihnen vor, diesen Beitrag wie folgt zu zitieren:
Rebekka Friedrich (19. September 2024). “Andere nicht wegstoßen, sondern ihnen zuhören”: Transgenerationales Gespräch anlässlich des Erinnerns an 30 Jahre Abschaffung des §175. Stadtarchiv Darmstadt. Abgerufen am 6. Februar 2025 von https://doi.org/10.58079/12bs7


Rebekka Friedrich

Hallo, ich bin Rebekka Friedrich und Diplom-Archivarin im Stadtarchiv der Wissenschaftsstadt Darmstadt. Hat Ihnen der Artikel gefallen? Dann hinterlassen Sie uns doch einen Kommentar, abonnieren Sie den DAblog per RSS-Feed oder folgen Sie unseren weiteren Social-Media-Kanälen.

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